Rückgrat


DJG: Ohne Unterbau stürzt jedes Gebäude - auch der Rechtsstaat
Ohne Rückgrat kein Rechtsstaat
Es klingt nach Aufbruch, nach Vision, nach politischer Entschlossenheit. 500 Millionen Euro. Eine halbe Milliarde. Der neue „Pakt für den Rechtsstaat“ verspricht den Ländern Geld für mehr Richter, mehr Staatsanwälte und für die Digitalisierung der Justiz. Was für ein Paukenschlag. Doch wer genau hinsieht, merkt schnell: Die Trommel klingt hohl. Denn erneut fehlt in diesem groß angelegten Projekt das, was die Justiz am Laufen hält – das Rückgrat des Systems: die Justizangestellten, die Beamten im mittleren Dienst, die Justizwachtmeister.
Es fehlt das Personal für die Aktenbearbeitung, die Protokollierung, die Aktenpflege, die Zustellung, den Vorführdienst, die digitale Erfassung, den Publikumsverkehr, die Umsetzung. Es fehlt der Unterbau. Wieder einmal. Ein Pakt für den Rechtsstaat, der sich nur auf die juristische Spitze konzentriert, ist ein Kartenhaus ohne Boden.
Justiz ist keine Soloshow für Richter
Staatsanwälte und Richter sind die Gesichter der Justiz. Ihre Urteile, ihre Anklagen, ihre Entscheidungen sind das, was die Öffentlichkeit sieht. Doch wer diese Entscheidungen vorbereitet, dokumentiert, technisch ermöglicht, archiviert, digitalisiert – das bleibt im Verborgenen. Und genau deshalb wird es so oft ignoriert. Ein Urteil existiert nicht ohne die Akte. Eine Anklage wird nicht wirksam ohne korrekte Zustellung. Ein Haftbefehl bleibt folgenlos, wenn niemand ihn vollstreckt. Die Justiz ist kein Gerichtssaal, sie ist ein System. Und dieses System ist nur so stark wie seine schwächste Stütze. Der „Pakt für den Rechtsstaat“ missversteht diese Realität. Er investiert in Schlagzeilen, nicht in Strukturen. In Show, nicht in Substanz.
Die Unsichtbaren der Justiz
Während in Pressemitteilungen von „leistungsstarker, verlässlicher und effizienter Justiz“ die Rede ist, schuften Tausende im Servicebereich am Limit. Diejenigen, die morgens oft vor 7:00 Uhr die Sitzungssäle vorbereiten, die Postkästen leeren, die Akten elektronisch erfassen, die eAkte pflegen, die Protokolle schreiben, die Verfügungen ausfertigen, die Diktate abtippen, die Telefone bedienen und die Angeklagten vorführen, sind es leid, immer wieder übergangen zu werden. Sie sind die Unsichtbaren der Justiz. Ohne sie passiert nichts. Und doch tauchen sie im „Pakt“ nicht einmal als Fußnote auf. Wie kann es sein, dass ausgerechnet in einem Projekt, das den Namen „Rechtsstaat“ trägt, diejenigen nicht vorkommen, die dafür sorgen, dass dieser Staat überhaupt funktioniert?
Belastung, Burnout, Berufsflucht
Die DJG-BW erhält täglich Berichte aus der Praxis:
- Dienstpläne, die auf Kante genäht sind.
- Krankheitsausfälle, die mit unbezahlter Mehrarbeit kompensiert werden.
- Neue Aufgaben durch Digitalisierung, aber keine Schulungen.
- Eine Erwartungshaltung der Richterschaft, als wäre Personal kein Thema.
Viele Kolleginnen und Kollegen können nicht mehr. Sie wollen nicht mehr. Sie gehen. Die Justiz verliert Jahr für Jahr erfahrenes Personal, das schlicht ausgebrannt ist. Die Nachbesetzung dauert Monate, manchmal Jahre. Und dann? Kommt die nächste Richterstelle. Die nächste Anweisung. Der nächste Digitalisierungsschub. Ohne Verstärkung. Das ist kein Verwaltungsproblem. Das ist ein Menschlichkeitsproblem.
Justiz als Flaschenhals der Gesellschaft
Es ist ein offenes Geheimnis: Verfahren dauern länger, Beschlüsse werden verspätet zugestellt, Haftprüfungen verzögern sich, Anklagen versanden. Nicht, weil Richter faul sind. Sondern weil die, die den Apparat tragen, überlastet sind. Die Öffentlichkeit sieht nur das Ergebnis: Straftäter auf freiem Fuß, Zivilprozesse nach Jahren, Opferschutz auf dem Papier. Aber niemand fragt, warum. Niemand fragt, warum der Beschluss erst nach sechs Wochen rausgeht. Oder warum die Unterlagen zur Vorführung fehlten. Oder warum die Vollstreckung verjährte. Die Antwort ist einfach: Weil zu wenig Leute da sind, um es zu tun. „Was nützt das Urteil, wenn es niemand mehr vollstreckt?“
Digitalisierung ohne Menschen? Der nächste Irrtum
Die Politik glaubt: Digitalisierung spart Personal. Ein fataler Irrtum. Digitalisierung verändert Arbeit, aber sie ersetzt sie nicht. Im Gegenteil: Sie verlangt neue Kompetenzen, neue Prozesse, neue Schnittstellen. Sie ist ein Zusatzaufwand – zumindest in der Einführung. Und wer setzt die eAkte um? Wer scannt, verschlagwortet, archiviert? Wer kümmert sich um Systemabstürze, Zugriffsrechte, fehlerhafte Datenübertragungen? Wer dokumentiert Mails, Fristen, ePost? Wer schult die Kolleginnen und Kollegen? Wer trägt die Verantwortung bei digitalen Fehlern? Auch hier: dieselben Leute wie vorher. Keine neuen Stellen. Keine Erleichterung. Keine Perspektive. Verantwortung? Fehlanzeige! Die DJG-BW fragt: Wer trägt die Verantwortung, wenn der neue Pakt scheitert? Wenn mehr Urteile produziert, aber nicht umgesetzt werden? Wenn die Serviceeinheiten kollabieren, weil sie nicht mitwachsen? Wenn Digitalisierung zur Frustfalle wird? Wer stellt sich dann hin und sagt: Wir haben falsch priorisiert? Wir sagen: Nicht die Justizangestellten werden das Problem sein. Sondern die Politik, die sie vergessen hat.