Rückgrat

ohne_service_geht_nichts
RR Dienstag, 5. August 2025 von RR

DJG: Ohne Unterbau stürzt jedes Gebäude - auch der Rechtsstaat

Ohne Rückgrat kein Rechtsstaat

Es klingt nach Aufbruch, nach Vision, nach politischer Entschlossenheit. 500 Millionen Euro. Eine halbe Milliarde. Der neue „Pakt für den Rechtsstaat“ verspricht den Ländern Geld für mehr Richter, mehr Staatsanwälte und für die Digitalisierung der Justiz. Was für ein Paukenschlag. Doch wer genau hinsieht, merkt schnell: Die Trommel klingt hohl. Denn erneut fehlt in diesem groß angelegten Projekt das, was die Justiz am Laufen hält – das Rückgrat des Systems: die Justizangestellten, die Beamten im mittleren Dienst, die Justizwachtmeister.

Es fehlt das Personal für die Aktenbearbeitung, die Protokollierung, die Aktenpflege, die Zustellung, den Vorführdienst, die digitale Erfassung, den Publikumsverkehr, die Umsetzung. Es fehlt der Unterbau. Wieder einmal. Ein Pakt für den Rechtsstaat, der sich nur auf die juristische Spitze konzentriert, ist ein Kartenhaus ohne Boden.

Justiz ist keine Soloshow für Richter

Staatsanwälte und Richter sind die Gesichter der Justiz. Ihre Urteile, ihre Anklagen, ihre Entscheidungen sind das, was die Öffentlichkeit sieht. Doch wer diese Entscheidungen vorbereitet, dokumentiert, technisch ermöglicht, archiviert, digitalisiert – das bleibt im Verborgenen. Und genau deshalb wird es so oft ignoriert. Ein Urteil existiert nicht ohne die Akte. Eine Anklage wird nicht wirksam ohne korrekte Zustellung. Ein Haftbefehl bleibt folgenlos, wenn niemand ihn vollstreckt. Die Justiz ist kein Gerichtssaal, sie ist ein System. Und dieses System ist nur so stark wie seine schwächste Stütze. Der „Pakt für den Rechtsstaat“ missversteht diese Realität. Er investiert in Schlagzeilen, nicht in Strukturen. In Show, nicht in Substanz.

Die Unsichtbaren der Justiz

Während in Pressemitteilungen von „leistungsstarker, verlässlicher und effizienter Justiz“ die Rede ist, schuften Tausende im Servicebereich am Limit. Diejenigen, die morgens oft vor 7:00 Uhr die Sitzungssäle vorbereiten, die Postkästen leeren, die Akten elektronisch erfassen, die eAkte pflegen, die Protokolle schreiben, die Verfügungen ausfertigen, die Diktate abtippen, die Telefone bedienen und die Angeklagten vorführen, sind es leid, immer wieder übergangen zu werden. Sie sind die Unsichtbaren der Justiz. Ohne sie passiert nichts. Und doch tauchen sie im „Pakt“ nicht einmal als Fußnote auf. Wie kann es sein, dass ausgerechnet in einem Projekt, das den Namen „Rechtsstaat“ trägt, diejenigen nicht vorkommen, die dafür sorgen, dass dieser Staat überhaupt funktioniert?

Der große Bluff mit großen Zahlen

„Es fehlt an Personal
im Unterstützungsbereich!“

„2.000 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte“, heißt es stolz. Eine halbe Milliarde Euro. „Digitalisierung“. „Zukunft“. Was sich wie Fortschritt liest, ist in Wirklichkeit eine Luftnummer, wenn man die Basis vernachlässigt. Denn mehr Richter heißt: mehr Verfahren, mehr Beschlüsse, mehr Verfügungen, mehr Akten. Wer bearbeitet die? Wer gibt sie in die eAkte ein? Wer verschickt sie? Wer terminiert, wer lädt, wer archiviert? Schon jetzt berichten die Gerichte und Staatsanwaltschaften von überquellenden Arbeitsbergen. In vielen Amtsgerichten und Staatsanwaltschaften Baden-Württembergs ist sich das „unsichtbare“ Personal laut einer aktuellen Umfrage der DJG-BW einig: „Es fehlt an Personal im Unterstützungsbereich!“. Und jetzt sollen noch mehr Richter und Staatsanwälte dazu kommen?

Belastung, Burnout, Berufsflucht

Die DJG-BW erhält täglich Berichte aus der Praxis:

- Dienstpläne, die auf Kante genäht sind.

- Krankheitsausfälle, die mit unbezahlter Mehrarbeit kompensiert werden.

- Neue Aufgaben durch Digitalisierung, aber keine Schulungen.

- Eine Erwartungshaltung der Richterschaft, als wäre Personal kein Thema.

Viele Kolleginnen und Kollegen können nicht mehr. Sie wollen nicht mehr. Sie gehen. Die Justiz verliert Jahr für Jahr erfahrenes Personal, das schlicht ausgebrannt ist. Die Nachbesetzung dauert Monate, manchmal Jahre. Und dann? Kommt die nächste Richterstelle. Die nächste Anweisung. Der nächste Digitalisierungsschub. Ohne Verstärkung. Das ist kein Verwaltungsproblem. Das ist ein Menschlichkeitsproblem.

Justiz als Flaschenhals der Gesellschaft

Es ist ein offenes Geheimnis: Verfahren dauern länger, Beschlüsse werden verspätet zugestellt, Haftprüfungen verzögern sich, Anklagen versanden. Nicht, weil Richter faul sind. Sondern weil die, die den Apparat tragen, überlastet sind. Die Öffentlichkeit sieht nur das Ergebnis: Straftäter auf freiem Fuß, Zivilprozesse nach Jahren, Opferschutz auf dem Papier. Aber niemand fragt, warum. Niemand fragt, warum der Beschluss erst nach sechs Wochen rausgeht. Oder warum die Unterlagen zur Vorführung fehlten. Oder warum die Vollstreckung verjährte. Die Antwort ist einfach: Weil zu wenig Leute da sind, um es zu tun. „Was nützt das Urteil, wenn es niemand mehr vollstreckt?“

Digitalisierung ohne Menschen? Der nächste Irrtum

Die Politik glaubt: Digitalisierung spart Personal. Ein fataler Irrtum. Digitalisierung verändert Arbeit, aber sie ersetzt sie nicht. Im Gegenteil: Sie verlangt neue Kompetenzen, neue Prozesse, neue Schnittstellen. Sie ist ein Zusatzaufwand – zumindest in der Einführung. Und wer setzt die eAkte um? Wer scannt, verschlagwortet, archiviert? Wer kümmert sich um Systemabstürze, Zugriffsrechte, fehlerhafte Datenübertragungen? Wer dokumentiert Mails, Fristen, ePost? Wer schult die Kolleginnen und Kollegen? Wer trägt die Verantwortung bei digitalen Fehlern? Auch hier: dieselben Leute wie vorher. Keine neuen Stellen. Keine Erleichterung. Keine Perspektive. Verantwortung? Fehlanzeige! Die DJG-BW fragt: Wer trägt die Verantwortung, wenn der neue Pakt scheitert? Wenn mehr Urteile produziert, aber nicht umgesetzt werden? Wenn die Serviceeinheiten kollabieren, weil sie nicht mitwachsen? Wenn Digitalisierung zur Frustfalle wird? Wer stellt sich dann hin und sagt: Wir haben falsch priorisiert? Wir sagen: Nicht die Justizangestellten werden das Problem sein. Sondern die Politik, die sie vergessen hat.

Der Vertrauensverlust ist real – und hausgemacht

Ein funktionierender Rechtsstaat ist die Grundlage für gesellschaftliches Vertrauen. Wenn aber Verfahren Jahre dauern, wenn Beschlüsse nicht umgesetzt werden, wenn Opfer das Gefühl haben, im Regen zu stehen – dann schwindet dieses Vertrauen. Und dieses Misstrauen richtet sich nicht gegen die Richter. Es richtet sich gegen „die Justiz“. Gegen alle. Und damit gegen das gesamte System. Ein starker Staat braucht starke Strukturen. Keine PR-Offensive. Kein Schaulaufen mit Richterroben. Sondern ernsthafte, nachhaltige, flächendeckende Personalpolitik. Unsere Forderung: Kein Pakt ohne Personal für den Unterbau.

Die DJG-BW fordert:

- Feste Stellenschlüssel: Pro neue Richter- oder Staatsanwaltsstelle mindestens zwei zusätzliche Unterstützungsstellen im Servicebereich.

- Zweckbindung der Bundesmittel auch für nichtjuristisches Personal.

- Verpflichtende Beteiligung der Personalvertretungen bei der Umsetzung.

- Schulungsoffensive für Digitalisierung mit Freistellung.

- Sofortprogramm für die Entlastung besonders belasteter Standorte.

Schluss mit schönen Worten – wir wollen Ergebnisse. Die DJG-BW wird nicht zulassen, dass die Menschen im Hintergrund der Justiz weiter vergessen werden. Wir werden unsere Stimme erheben, bei jeder Anhörung, in jeder Arbeitsgruppe, auf jeder Tagung. Denn wir wissen: Ohne uns geht nichts. Dieser Pakt ist kein Fortschritt. Er ist ein Etikettenschwindel, solange er nicht den gesamten Justizbetrieb umfasst. Solange die Basis fehlt, ist alles nur Kulisse. Ohne Rückgrat kein Rechtsstaat.

Reinhard Ringwald
Landesvorsitzender

© 2025 Deutsche Justiz-Gewerkschaft Landesverband Baden-Württemberg e. V.

Diese Website benutzt Cookies, um Ihnen das beste Erlebnis zu ermöglichen. Weiterführende Informationen erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.