Kontrolle


GV: Neuer Erlass macht Gerichtsvollzieher krank
Kontrolle kennt kein Gewissen
„Ich habe mein Leben lang für diesen Beruf gebrannt“, schreibt eine Kollegin, „aber dieser Erlass hat alles verändert. Ich lebe in der Angst, in meiner privaten Wohnung Besuch zu bekommen. Meine Kinder verstehen nicht, warum ich angespannt bin, wenn es an der Tür klingelt. Ich will nicht in einem Beruf bleiben, der mich krank macht.“ Solche Sätze sind kein Einzelfall. Sie stehen exemplarisch für einen massiven Eingriff in das Selbstverständnis einer Berufsgruppe, die für diesen Staat hoheitlich handelt – nicht unter Aufsicht, sondern aus Überzeugung.
Leises Schleifen von Maßnahmen
Manchmal ist es nicht der große Knall, der Systeme beschädigt. Manchmal ist es das leise Schleifen von Maßnahmen, das unmerklich, aber unaufhaltsam Vertrauen zerstört, Autonomie zersetzt und am Ende Menschen zermürbt. Der Erlass des Oberlandesgerichts Stuttgart zur Durchführung unangekündigter Geschäftsprüfungen bei Gerichtsvollziehern ist ein solcher Fall – ein Verwaltungsdokument mit potenziell verheerender Wirkung. Was dort auf den ersten Blick nach organisatorischer Kontrolle aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Einladung zur dauerhaften Überwachung, zur Entgrenzung von Dienstzeiten und zur Entmündigung eines ganzen Berufsstandes. Und: zur schleichenden Aushöhlung der psychischen Gesundheit von Kolleginnen und Kollegen, die diesen Beruf einmal aus Leidenschaft gewählt haben.
Seit dem 17. Juli 2025 gilt im Bezirk des OLG Stuttgart: Jeder Gerichtsvollzieher, jede Gerichtsvollzieherin kann zu jeder Zeit Besuch vom Prüfungsbeamten erhalten – unangekündigt, ohne Rücksicht auf Termine, Pausen, persönliche Lebenssituation oder gar Krankheit. Der Dienstherr fordert in einem Ton, der keinen Zweifel lässt: Der Beruf, der bislang durch Selbstverantwortung, Vertrauen und flexible Arbeitsgestaltung geprägt war, wird ab sofort zu einem Feldversuch in permanenter Kontrollierbarkeit.
Dass dies krank machen kann, ist keine bloße Behauptung, sondern tägliche Realität. Uns erreichen Zuschriften von Kolleginnen, die nachts nicht mehr schlafen, die mit Schwindel und Panik aufwachen, die ihre Kinder nicht mehr betreut bekommen, weil der „Prüfer jederzeit kommen könnte“. Menschen, die ihre berufliche Existenz hinterfragen, weil sie sich plötzlich unter einem Generalverdacht wiederfinden, dem sie sich nie ausgesetzt sahen – obwohl sie jahrzehntelang tadellos, rechtskonform und mit hoher Integrität gearbeitet haben.
Prüfungsbeamte mit carte blanche
Dabei ist das juristische Fundament dieses Erlasses brüchig. § 79 GVO spricht vom aufsichtführenden Richter – nicht von einem anonymen, durch Verwaltungsentscheidung eingesetzten Prüfungsbeamten mit carte blanche. Eine richterliche Prüfung? Fehlanzeige. Der Rückgriff auf § 175 GVG zur Rechtfertigung von Prüfungsanwesenheit bei der Abnahme von Vermögensauskünften ist nicht nur rechtlich abwegig – er ist gefährlich. Er öffnet der Entgrenzung der Amtsbefugnisse Tür und Tor und untergräbt das Vertrauen von Schuldnern und Gläubigern gleichermaßen.
Hinzu kommt: Der Staat, der prüft, muss auch haushalten. Doch statt gezielter, risikobasierter Kontrollen erleben wir nun ein System des blinden Anklopfens: Prüfbeamte fahren aufs Geratewohl durch das Land, treffen niemanden an, melden „nicht erreichbar“, fahren weiter. Das verursacht Fahrtkosten, Zeitverlust – und bringt keinen Mehrwert. Gleichzeitig sollen Gerichtsvollzieher terminierte Amtshandlungen absagen, um sich prüfen zu lassen. Wo bleibt da der Schutz des Gläubigers? Wer haftet, wenn die Abnahme der Vermögensauskunft scheitert und der Schuldner beim zweiten Termin nicht mehr erscheint?
Es ist ein System in Schieflage. Ein System, das ohne jede Rücksicht auf Gesundheitsbelastung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die Schutzvorschriften des Arbeitszeitrechts agiert. Es ignoriert, dass Gerichtsvollzieher im Rahmen der ZPO zwischen 6 und 21 Uhr eigenverantwortlich tätig sein dürfen. Es untergräbt die gesetzlich garantierte Selbstorganisation. Und es offenbart ein tiefes Misstrauen gegenüber einer Berufsgruppe, die sich bislang gerade dadurch ausgezeichnet hat, dass sie ihren Dienst nicht nach Uhr, sondern nach Verantwortung ausrichtet.
Das perfideste dabei: Die Kontrollstruktur tarnt sich als „Qualitätssicherung“, verschweigt aber, dass es keinerlei Belege gibt, wonach unangekündigte Prüfungen zu höherer Qualität führen. Im Gegenteil: Sie führen zu Verunsicherung, zu Terminverlegungen, zu Stress, zu Konflikten mit Schuldnern und Familien. Sie führen zu einer Dienstrealität, in der Gerichtsvollzieher keine Ruhe mehr finden – weil sie nicht wissen, wann und wo sie sich erklären müssen.
Es ist an der Zeit, diesem Irrweg eine Grenze zu setzen. Die Justiz kann nur dann funktionieren, wenn ihre Vollzugsorgane funktionieren. Und das können sie nicht, wenn sie unter permanenter Beobachtung stehen, unter Generalverdacht fallen und Angst haben müssen, im eigenen Beruf nicht mehr frei atmen zu können. Wer Vollstreckung organisiert, braucht Rechtssicherheit – nicht Kontrolle im Vorbeigehen.
Bürokratische Entfremdung
Die Justiz muss sich entscheiden, ob sie eine loyale und selbstverantwortliche Vollstreckungsstruktur will – oder ein System permanenter Kontrolle, das Beamte in die Erschöpfung treibt. Es darf keine Prüfungen außerhalb klar definierter, individueller Dienstzeiten geben. Keine Kontrollen an Samstagen, Sonn- und Feiertagen. Keine Eingriffe in Urlaubszeiten, Pausen oder persönliche Erholungsräume. Schluss mit einem Prüfregime, das Amtsgeschäfte über Familien, Gesundheit und Menschenwürde stellt.
Die Priorisierung der Kontrolle vor der tatsächlichen Rechtspflege, das erzwungene Absagen hoheitlicher Amtshandlungen zugunsten einer unangekündigten Kontrolle, ist ein Verstoß gegen alles, was Dienstverhältnis und Fürsorgepflicht ausmacht. Es ist der Gipfel bürokratischer Entfremdung, wenn Prüfer durch das Land fahren, ohne Wirkung – während Kolleginnen und Kollegen um ihre psychische Belastbarkeit ringen.
Es ist nicht zu spät. Aber es ist höchste Zeit.
Wir fordern daher eine komplette Neuordnung des Prüfungswesens. Schluss mit pauschalen Verdächtigungen. Schluss mit Bürokraten, die hinter vorgehaltener Hand von Effizienz sprechen, aber den Preis nicht zahlen, den andere dafür zahlen müssen: mit ihrer Gesundheit. Der Beruf des Gerichtsvollziehers darf nicht zum Experimentierfeld autoritärer Kontrolle werden. Er braucht Respekt, Rückhalt und verlässliche Strukturen.
Wer diesen Beruf ausübt, trägt den Rechtsstaat. Wer ihn auszehrt, gefährdet ihn.
Wir sagen klar: Wer Hilfe braucht, soll sich an uns wenden – zu jeder Zeit. Wer psychische Belastung verspürt, darf nicht schweigen. Niemand ist verpflichtet, diesen Druck klaglos zu ertragen. Wir sind da – als Ansprechpartner, als Schutzschild, als Stimme. Denn ein Land, das seine Gerichtsvollzieher ausbrennen lässt, verliert nicht nur Personal – er verliert das Vertrauen in seine Ordnung.
Dr. Pierre Holzwarth
Vorsitzender Fachbereich Gerichtsvollzieher